Trotz Integrationspreis, den die Geschwister erhielten, sollen Nesa und seine Familie nach zehn Jahren in Magdeburg abgeschoben werden.

Magdeburg l Es sind viele Gedanken, die Nesa Barjamovic durch den Kopf gehen. Gedanken, die ein 16-Jähriger sich nicht machen sollte. Während andere Jungs seines Alters die ersten Berufserfahrungen machen, sich verlieben und die Unbeschwertheit der Jugend leben, ist Nesa voller Sorgen und Ängste. Er fürchtet um die Gesundheit seines Vaters und seines jüngsten Bruders. Er hat Zukunftsängste und Zweifel.

Nesa und seine Familie sollen nach Serbien abgeschoben werden. Ein Land, dass die Kinder nicht kennen und dessen Sprache sie nicht sprechen. Ein Land, das Roma-Familien, wie sie es sind, diskriminiert.

Kinder sind seit zehn Jahren in Magdeburg

Seit 2011 lebt der 16-Jährige mit seinen Eltern Vladica (33) und Kadena (35) sowie seinen Geschwistern Emanuel (14), Josif (13), Alex (6), Mario (5) und Marina (2) in Magdeburg. Nesa selbst kann sich an seine Heimat nur noch Bruchteilhaft erinnern, seine Geschwister gar nicht. Alex, Mario und Marina sind in Magdeburg geboren. Bereits 2015 und 2016 drohte der Familie die Abschiebung. Der gesundheitliche Zustand des Vaters, der unter anderem an Epilepsie leidet, lies dies nicht zu. Schon damals sorgte ihr Fall für Aufsehen, waren die älteren Brüder 2014 doch mit dem Integrationspreis des Landes ausgezeichnet worden.

Brüder sind preisgekrönte Breakdancer

Ihnen wohnt ein besonderes Talent inne. Sie haben sich mit Breakdance einen Namen gemacht. Mit der „Break Grenzen Crew” gewannen sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. 2017 wurden sie Deutsche Meister und erreichten im selben Jahr beim Battle of the Year, dem größten Breakdance Wettkampf Deutschlands, den zweiten Platz. „Erfolge, die ihnen nicht geschenkt wurden, sondern sie sich durch hartes Training erarbeitet haben“, weiß Valerie Schmitt.

Sechsfache Mutter ist Analphabetin

Sie arbeitet seit sieben Jahren mit den Jungs und betreut sie auch in familiärer Hinsicht. Die Jugendbildungsreferentin weiß um die Probleme der Familie, beschönigt auch die Gründe der Abschiebung nicht. So werde den Eltern neben mangelnder Integration vorgeworfen, dass ihre Deutschkenntnisse nach so vielen Jahren mangelhaft sind.

Und tatsächlich sprechen sie daheim hauptsächlich Romanes. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in dem Analphabetentum der Mutter. „Vladica hat nie eine Schule besucht, kann weder lesen noch schreiben“, erklärt Valerie Schmitt. „Für sie ist es, um ein Vielfaches schwieriger eine Sprache zu lernen.“ Zudem sei sie Mutter von sechs Kindern, habe deswegen kaum soziale Kontakte zu Deutschsprechenden oder Zeit, eine Schule zu besuchen. Auch der Vater könne dies kaum leisten, da seine kognitive Leistungsfähigkeit einschränkt ist.

Das Analphabetentum der Mutter rufe zugleich das nächste Problem auf den Plan – die Schulpflicht. Nesa habe häufig in der Schule gefehlt. Dies jedoch, so erzählt er, um seine Eltern bei Terminen als Übersetzer zur Seite zu stehen. Selbst beim Einkaufen begleitet der 16-Jährige seine Mutter, um für sie zu übersetzen oder zu rechnen. Alle Behördengänge, Termine, Absprachen laufen über ihn. „Auf ihm liegt eine enorme Belastung“, erklärt die Jugendbildungsreferentin. Seine Geschwister kommen ihrer Schulpflicht jedoch nach. „Da gab es noch nie eine Beschwerde von der Schule“, beteuert Nesa. Nur aktuell können sie keine Schulaufgaben machen, da sie für Distanzunterricht weder einen Computer noch Internet haben.

Jüngster Sohn hat seltenen Gendefekt

Für Nesa und seine Familie ist die bevorstehende Abschiebung ein Albtraum. „Meine Geschwister könnten in Serbien nicht zur Schule gehen, da wir die Sprache nicht sprechen“, erklärt der 16-Jährige. Wohnen müsste die Familie im Haus der Großeltern. Dort lebt jedoch bereits sein Onkel mit seiner großen Familie. Das Haus habe keine Heizung und kein richtiges Dach. „In Serbien haben wir kein Leben.“ Nesas jüngster Bruder Mario hat zudem einen seltenen Gendefekt, durch den sein Körper Nierensteine produziert. In Magdeburg ist er deswegen schon mehrfach operiert worden, wurde lange über eine Sonde ernährt.

Ob die medizinische Versorgung auch in Serbien gesichert ist, ist fraglich. Zudem kann sich die Familie die Medikamente, die der Vater und Mario benötigen, nicht leisten. „Familie Barjamovic zurückzuschicken und zu sagen, die werden schon irgendwie klarkommen, ist für mich unmenschlich“, unterstreicht Valerie Schmitt.

In Deutschland hätten die Kinder eine Perspektive. Nesa habe Angebote als Tanzlehrer zu helfen. Er ist in der „Villa Wertvoll“ aktiv und will eine Ausbildung zum Friseur machen. Er habe bisher zwar keinen Abschluss, weiß aber, dass er ihn für eine Ausbildung benötigt. Momentan absolviere er deswegen einen Bundesfreiwilligendienst.

Dass dies schon in Kürze alles platzen könnte, frustriert den 16-Jährigen. „Manchmal scheint er schon zu resignieren“, beobachtet Valerie Schmitt. Wie schon vor Jahren hat sie eine Petition für die Familie ins Leben gerufen, die mit einem Film über Nesa untermalt ist.

36.615 Menschen unterschreiben Petition

Binnen weniger Tage kamen Tausende Unterschriften zusammen. Mittlerweile haben 36.615 Menschen für den dauerhaften Aufenthalt der Familie Barjamovic unterschrieben. Die Petition kann an der Entscheidung nichts ändern, wohl ist sie aber eine Solidaritätsbekundung. Eine letzte Hoffnung hat die Familie noch. Die Härtefallkommision hat sich ihres Falles angenommen.

Sollte die Entscheidung zu einer Abschiebung führen, werde die Familie nicht warten, bis sie unter Zwang abgeholt wird, sagt Vladica Barjamovic. Das habe sie schon einmal erlebt – als die Oma vor sechs Jahren nachts von der Polizei geholt wurde. „Die Polizisten kamen mit Taschenlampe rein und Oma musste sofort ihre Sachen nehmen und mit ihnen fahren“, erinnert sich Nesa. Auch den Opa hatten die Beamten gesucht, doch der war wegen der Beerdigung seines Bruders bereits in Serbien. Das alles will die Familie nicht noch ein mal erleben. „Wenn es so ist, dass wir gehen müssen, dann müssen wir das wohl tun“, sagt Nesa.

Stadt sieht Ausreisepflicht

Während die Familie bangt und hofft, sieht die Stadt Magdeburg für die Roma-Familie eine Ausreisepflicht. „Die Eltern reisten mit ihren damals drei minderjährigen Kindern Ende 2011 als Asylsuchende nach Deutschland. Die mehrmals gestellten Asylanträge, auch für die später in Deutschland geborenen Kinder, wurden alle durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. Damit war die Familie ausreisepflichtig“, erklärt sie.

Aufgrund vorgetragener gesundheitlicher Einschränkungen bei dem Vater sei seitens des Amtsarztes in den Jahren 2015 und 2016 eine vorübergehende Reiseunfähigkeit festgestellt worden, woraufhin die Familie ein befristetes humanitäres Aufenthaltsrecht erhielt. Gleichzeitig ergab eine  darüberhinausgehende Prüfung der humanitäre Bleiberechtsmöglichkeiten, dass die Familie auf zusätzliche Unterstützung, gerade bei der Betreuung und Erziehung der Kinder, angewiesen ist, heißt es seitens der Stadt. Schon damals habe sich abgezeichnet, dass es allein bei der Umsetzung der Schulpflicht Probleme gab.

Amtsarzt bescheinigt Reisefähigkeit

Aus diesem Grund wandte sich die Ausländerbehörde Magdeburg im Jahr 2016 an die Integrationsbeauftragte des Landes, um u.a. auch für die Familie Barjamovic entsprechende Unterstützungsmöglichkeiten zu finden. „Bei erneuten amtsärztlichen Untersuchungen im Jahr 2017 und 2019 wurde die Reiseunfähigkeit nicht mehr bestätigt. Gleichzeitig prüfte die Ausländerbehörde die Möglichkeit eines humanitären Aufenthaltsrechtes auf Grund der Integration. Dabei sei festgestellt worden, dass eine soziale und wirtschaftliche Integration, der es für einen weiteren humanitären Aufenthalt bedürfte, nicht erfolgt ist.

„Die Eltern verfügen trotz des langjährigen Aufenthaltes nur über einfachste Sprachkenntnisse. Zu einer erfolgreichen Integration der Kinder wurden der Familie verschiedenste Unterstützungsmöglichkeiten zuteil. So betreut eine Familienhelferin die Familie und belehrt insbesondere die Eltern regelmäßig über die Schulpflicht der Kinder. Allerdings zeigen diese kein Interesse daran, dies den Kindern zu vermitteln. Es liegen bei allen Kindern massive, auch bußgeldbewährte, Verstöße gegen die Schulpflicht vor. Der älteste Sohn hat mit 16 Jahren die 7. Klasse ohne Abschluss verlassen und kommt derzeit mit dem Bundesfreiwilligendienst seiner Schulpflicht nach“, erklärt die Stadt. Die Voraussetzungen, eine Ausbildung aufnehmen zu können, habe er nicht erreicht.

Die für einen humanitären Aufenthalt gesetzlich nominierten Voraussetzungen zur Integration seien durch kein Familienmitglied erfüllt. „Vielmehr haben die Bemühungen auf Veranlassung der Integrationsbeauftragten des Landes, des Jugendamtes und der Ausländerbehörde Magdeburg, den Aufenthalt der Familie in bleiberechtliche Bahnen zu lenken, auf Grund der fehlenden Mitwirkung der Familie zu keinem entsprechenden Ergebnis geführt.“ Aus diesem Grund war der weitere rechtmäßige Aufenthalt durch die Ausländerbehörde abzulehnen. Die entsprechenden Bescheide, aus denen die konkreten Ablehnungsgründe detailliert hervorgehen, seien dem bevollmächtigten Rechtsanwalt im Oktober 2020 zugestellt worden. Damit besteht für die Familie seitdem eine vollziehbare Ausreisepflicht.

Stadt erwartet freiwillige Ausreise

Zudem weist die Stadt darauf hin: „Niemand muss abgeschoben werden. Von ausreisepflichtigen Personen ist ein gesetzeskonformes Verhalten, den unerlaubten Aufenthalt freiwillig zu beenden, zu erwarten. Es werden umfangreiche Beratungen zur Ausreiseunterstützung und zu Reintegrationsmöglichkeiten angeboten. So kann z.B. auch Unterstützung bei der Wohnungssuche im Heimatland gegeben werden und welche Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung bestehen. Es gibt extra Förderprogramme der EU für Roma.“ Zudem leben die Eltern bzw. Großeltern in Serbien und können der Familie bei ihrer Rückkehr erste Unterstützung bieten. Die Kinder sprechen auch die Sprache der Eltern und das ist Roma. Weder Vater noch Mutter beherrschen die deutsche Sprache.“

Quelle: https://www.volksstimme.de/