Marko Knudsen, Chef der Roma-Vereinigung, am Denkmal Hannoverscher Bahnhof im Lohsepark
Marko Knudsen, Chef der Roma-Vereinigung, am Denkmal Hannoverscher Bahnhof im LohseparkQuelle: Bertold Fabricius

Eine Gedenkstätte in Hamburg soll an die Schicksale von in der NS-Zeit verfolgten Roma und Sinti erinnern. Der Hamburger Marko Knudsen hat für sie gekämpft, denn die Gegenwart bereitet ihm zunehmend Sorgen.21Anzeige

Jemand hat Blumen auf die vom Regen nassen Gedenktafeln mit den mehr als 8000 Namen gelegt. Die Namen, die für Marko Knudsen von besonderer, weil persönlicher Bedeutung sind, stehen weiter vorn in der Auflistung. Hunderte Roma und Sinti aus Hamburg und Norddeutschland wurden an diesem Ort mitten in der Hafencity in den 1940er-Jahren von den Nationalsozialisten in Züge verfrachtet und deportiert.

Die Bahnschienen, die hinter den Gedenktafeln verlaufen, sind die Originale, über die die Waggons in Richtung der Konzentrationslager und Gettos fuhren. Es ist eine von wenigen Ausnahmen, ein Ort, an dem in der NS-Zeit verfolgten Juden, Roma und Sinti gleichermaßen gedacht wird. Der Hamburger Rom Marko Knudsen hat sich für das Projekt eingesetzt.

Einige Hundert Meter entfernt soll im Erdgeschoss eines neuen Bürogebäudes eine Ausstellung zu der tragischen Geschichte der Deportierten entstehen. Der symbolische erste Spatenstich wurde gerade getätigt. Eigentlich ein bedeutender Moment für Knudsen, der sich für dieses gemeinsame Mahnmal von Sinti, Roma und Juden eingesetzt hat. Wenn die Ausstellung eröffnet wird, sind seit den ersten Planungen mehr als zehn Jahre vergangen. Knudsen ist froh, dass das Projekt nun umgesetzt wird – aber besorgt ist er auch. Denn die Lage für Roma und Sinti verschlechtere sich zurzeit massiv, sagt er.

Der Sozialpädagoge Knudsen engagiert sich im Bildungsverein der Roma zu Hamburg (BVR) und im Europäischen Zentrum für Antiziganismusforschung (EZAF). Seit 2003 ist er in Vollzeit als Roma-und-Sinti-Beauftragter für die Hamburger Schulbehörde tätig.

Absentismus ist eines seiner großen Themen: Kinder und Jugendliche, die dem Unterricht fernbleiben, entweder aus eigenem Unwillen oder weil die Eltern sie nach Ärger mit den Lehrern nicht mehr gehen lassen wollen. Dass diese schwierigen Fälle aber gerade nicht für das Gros der Roma und Sinti stehen, komme in der Mehrheitsgesellschaft kaum an, findet Knudsen. Er hat deshalb gemeinsam mit Kollegen einen Dokumentarfilm produziert, „Roma Stories“. Darin werden Positivbeispiele für Lebensgeschichten von Roma und Sinti vorgestellt. Der Film wurde gerade in Absprache mit der Behörde an allen Hamburger Schulen verteilt.

„Wir wollten anhand von positiven Fällen zeigen, dass es nicht nur die Ungebildeten und die Schulabbrecher gibt“, sagt Knudsen. „Viele Menschen wissen zu wenig über uns.“ Meistens würden nur Negativbeispiele herangezogen, die der Mehrheitsgesellschaft „die“ Roma und Sinti erklären sollten. „Gutes bleibt oft unsichtbar.

Das liegt auch daran, dass die Angst vor Diskriminierung in den vergangenen zehn Jahren aufgrund der nationalistischen Tendenzen in der ganzen Welt massiv stärker geworden ist und deshalb viele Roma und Sinti nicht an die Öffentlichkeit treten wollen.“ Gerade unter Hamburger Sinti bemerke er eine stärker werdende Angst, als Teil der Minderheit „geoutet“ zu werden, sagt Knudsen. „Jetzt wieder beide Seiten zueinander zu bekommen, das ist die große Herausforderung.“

Knudsen ist in Billstedt aufgewachsen, hatte sein „Outing“ mit 14 Jahren und seitdem nach seiner eigenen Aussage „nur noch Ärger in der Schule“. Ein Lehrer habe ihm das nächste Zeugnis in die Hand gedrückt mit den Worten: „Aus dir wird sowieso nichts.“ Inzwischen hat Knudsen seit 30 Jahren dieselbe Telefonnummer, die ständig angerufen wird. Als Beauftragter für Roma und Sinti besteht ein großer Teil seiner Arbeitszeit aus der Vermittlung zwischen Familien und Schulen.

Dass sich Knudsen, dessen Großeltern in den 1950er-Jahren nach Hamburg kamen und zunächst in einem Wagenlager bei der Reeperbahn lebten, früh sozial für andere Roma engagierte, hat auch mit seinem Vater zu tun. Der war Mitgründer der Hamburger Rom und Cinti Union und spielte mit dem „Duo Z“ sogenannte „politische Zigeunerlieder“.

„Es gibt immer eine mörderische Angst vor uns“

Den Ausdruck „Zigeuner“ lehnt Knudsen übrigens wie sämtliche Roma-und-Sinti-Vereinigungen, abgesehen von der Sinti-Allianz aus Nordrhein-Westfalen, ab. Dafür, dass solche Begriffe trotzdem teilweise benutzt werden, macht der Hamburger auch die AfD verantwortlich, die für eine neue Sprachkultur gesorgt habe: „Es gab Dinge, die man früher einfach nicht aussprach, weil es innerhalb der Gesellschaft den Konsens gab, dass es falsch ist. Diese Formulierungen hat die AfD wieder gesellschaftsfähig gemacht unter der Überschrift: ‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.‘“

Knudsen sieht die Verantwortung auch in den Schulen. Letztere seien ein Spiegel der Gesellschaft. „In den Schulen kommen Kinder oft zum ersten Mal mit entsprechenden Begrifflichkeiten in Kontakt. Die Schulen müssten eigentlich Argumente an die Hand geben, sodass junge Menschen zu Hause antiziganistische Diskussionen führen könnten.“ Dazu soll auch der Film „Roma Stories“ beitragen.

Als Sozialpädagoge greift er auch ein, wenn es Probleme in der Schule gibt, sich Lehrer oder Sozialarbeiter aber nicht zum Gespräch zu den Familien trauten. „Es gibt immer eine mörderische Angst vor uns“, sagt Knudsen, und meint damit auch die Hamburger Polizei. Die fokussiert sich vor allem auf die Sinti-Siedlung am Georgswerder Ring in Wilhemsburg. Dort wohnen in 44 Häusern mehr als 100 Mitglieder der Familie Weiss. Vor einem Jahr hatten Vertreter verschiedener Behörden eine Krisensitzung im Rathaus einberufen, um den sich dort angeblich häufenden Straftaten auf den Grund zu gehen.

Knudsen hält das Vorgehen für übertrieben. Unter dem „Deckmäntelchen des Selbstschutzes“ rücke die Polizei mit „Überfallkommandos“ im Georgswerder Ring ein, sobald es ein Problem gebe. Unnötig, meint er. „Gleich im ersten Haus wohnt der Älteste. Es reicht völlig, wenn man dort mit ein paar Mann anklopft und die Lage erklärt. Wer dann mitgehen muss, geht auch mit.“LESEN SIE AUCH

Die Macht des „Ältesten“ gehört laut Knudsen genauso zu einem „Ehrenkodex“ der Roma wie verschiedene Reinlichkeitsgebote und die über allem stehende Bedeutung der Familie. Dennoch: „Unsere Gesellschaft entwickelt sich genauso weiter wie alle anderen“, sagt Knudsen. Zwar komme es gelegentlich noch vor, dass Jugendliche aus Roma-Familien schon früh symbolisch „verheiratet“ würden, nachdem sie über Nacht gemeinsam weggeblieben seien. Aber auch hier sieht sich Knudsen als Bildungsbeauftragter in der Pflicht: „Bildung ist das beste Verhütungsmittel. Das Beste, was es gibt, um ein junges Mädchen vor so etwas zu bewahren, ist, dass sie zur Schule geht.“

Zeitzeugen haben bisher auch die Aufgabe übernommen, Vorurteile gegenüber Minderheiten abzubauen. Das wird immer schwieriger. Er selbst kenne keine NS-Zeitzeugen aus der Hamburger Roma- und Sinti-Gemeinde mehr, sagt Knudsen. „Der Letzte ist im vergangenen Jahr gestorben.“

In dem neuen Dokumentationszentrum in der Hafencity sollen ihre Geschichten festgehalten werden. Anlässlich des ersten Spatenstichs sagte Oliver von Wrochem, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: „Das Dokumentationszentrum soll als Ort lebendiger Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart Antworten geben auf die Frage: Was bedeutet das Wissen um die NS-Verbrechen für unser Denken und Handeln im Hier und Jetzt?“ Besucher sollten in „Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus“ zum Nachdenken über die eigene Verantwortung in der gegenwärtigen Gesellschaft angeregt werden. Ein Gedanke, den Marko Knudsen teilt. Er formuliert es so: „Kopf für Kopf muss überzeugt werden – Das ist das Schwierige.“

Quelle: https://www.welt.de/