Wir haben uns daran gewöhnt, dass diese Volksgruppe in vielen Ländern ausgegrenzt wird. Doch was in Italien, Ungarn und auch Tschechien passiert, ist mehr als ein Warnzeichen.
Kaum war der italienische Innenminister Matteo Salvini im Amt, bewies er schon, dass er auch als Mitglied der Regierung auf rabiate Forderungen und ruchlose Formulierungen setzen wird. Er verlangte, dass die in Italien lebenden Roma gezählt, bürokratisch erfasst und schließlich außer Landes geschafft werden müssten. Die Roma italienischer Staatszugehörigkeit, fügte er bedauernd hinzu, „müssen wir leider behalten“. Von seinem kollektiven „Wir“ der Nation sind sie gleichwohl ausgeschlossen. Salvinis Ankündigung rief einigen Widerspruch in der italienischen Öffentlichkeit hervor, wobei es mit Manfred Schullian ein Südtiroler Parlamentarier der konservativen SVP war, der rühmenswert deutlich sagte, dass die Zählung einer Minderheit von einem „moralischen, historischen und politischen Standpunkt unannehmbar und außerdem verfassungswidrig“ sei.
Die europäische Kritik hingegen war verhalten, sie wurde mehr pflichtmäßig geübt, als ginge es um ein Problem minderer Bedeutung, sodass der unverhohlen rassistische Vorstoß anderntags schon fast wieder vergessen war. Es scheint, die Union wäre derzeit eben mit Wichtigerem befasst, als gegen Pläne eines ihrer Mitgliedsländer aufzutreten, die den Pesthauch von Sondergesetzen verströmen.
Zwei Tage, nachdem Salvini polternd und drohend dargelegt hatte, wie er mit der Landplage der Roma aufräumen wolle, war im Fernsehen eine kuriose Szene zu sehen: Der österreichische Innenminister Herbert Kickl und der Vizekanzler Heinz-Christian Strache von der FPÖ trafen Salvini in Rom und warfen sich dabei geradezu mit Anlauf in eine innige Umarmung mit ihm; vor laufender Kamera lagen sie einander in den Armen, als würden sich nicht die Repräsentanten zweier Staaten, sondern drei Jugendliche treffen, die ein Bubenstück, das ihnen besonders gut gelungen ist, bejubeln wollen.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Ausgrenzung der Roma europaweit praktiziert oder immerhin akzeptiert wird.
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz wiederum beeilte sich zu erklären, dass jene, „die auf Salvini oder Orbán herunterblicken, die Europäische Union zerstören“. Niemand blickt zwar auf diese beiden herunter, sondern viele schauen eher besorgt, entsetzt oder empört zu ihnen hin. Was Kurz sagte, ist dennoch bemerkenswert: dass es nämlich nicht brachiale Chauvinisten wie Salvini sind und auch nicht die Verfechter einer „illiberalen Demokratie“, die Europa zerstören, sondern jene, die vor Rassismus und autoritärem Staatsumbau warnen.
Warum ist Salvinis Vorstoß im Alltag der europäischen Debatten als nicht ganz ernst gemeinter rhetorischer Ausrutscher abgetan worden? Das hängt mit denen zusammen, gegen die Salvini mobilisiert. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Ausgrenzung der Roma europaweit praktiziert oder immerhin akzeptiert wird. Zsolt Bayer, der Ideologe der christlichen AKP namens Fidesz und einer von Orbáns wichtigsten Beratern, hat die Roma mehrfach als „Tiere“ bezeichnet, die „unwürdig sind, unter Menschen zu leben“. Je öfter Roma in Ungarn zum Opfer rassistischer Gewalt werden, umso häufiger sind sie es, die öffentlich der Gewalttätigkeit geziehen werden. Und der tschechische Abgeordnete Jiří Šulc hat bereits vor Jahren gefordert, die tschechischen Roma nach Haiti zu deportieren und zwar, wie er höhnisch anfügte, als Wiederaufbauhilfe der Europäischen Union für das durch das Erdbeben verwüstete Land: „Hilfe für Haiti – wir schicken 200 000 neue Haitianer!“
Solche Tiraden fallen auf fruchtbaren Boden, weil überall in den schicken Fußgängerzonen unserer Städte, von Aarhus bis Bergamo und von Lyon bis Linz, Roma als Bettler allgemeines Ärgernis erregen. Doch ist dieses Ärgernis die einzige Chance, die sie haben, durch ihre schiere körperliche Präsenz, durch ihre störende Anwesenheit auf sich und ihre unhaltbare Situation in vielen Ländern im Osten der EU aufmerksam zu machen. Nur indem sie nicht, für uns unsichtbar, dort ausharren, wo sie in Armut, Ächtung und Apathie festsitzen, vermögen sie uns daran zu erinnern, dass es sie gibt und sie sich fast überall in einer desolaten Lage befinden. Blieben sie dort, wo ihnen seit Jahrhunderten und über den Wechsel der Regime die gleiche Degradierung blüht, wir würden sie schlicht vergessen.
Vor einigen Jahren habe ich in kleinen und großen Zeitungen gefordert, dass die Leipziger Buchmesse, die ihren Schwerpunkt verdienstvoll auf unbekannte europäische Literaturlandschaften richtet, einmal die Literatur der Roma zu ihrem Messe-Schwerpunkt machen sollte. Zu entdecken wären, von Spanien bis Schottland, von Frankreich bis Mazedonien, nicht bloß literarische Dokumente, die vom Elend dieser größten, immer schon transnational lebenden Minderheit berichten, sondern auch viele künstlerische Werke, die von gelungener Emanzipation, von Würde und schöner Renitenz der europäischen Roma zeugen. Was soll ich sagen? Diese Artikel haben weder bei den angesprochenen Stellen noch auf den Seiten mit Leserbriefen auch nur die geringste Resonanz hervorgerufen.
Das wiederholte sich, als ich einen Vorschlag des einstigen Kulturstadtrats von Graz, Helmut Strobl, aufgriff und zu propagieren versuchte: Dass die Europäische Union einmal die Slums der Roma in Mittel-, Süd- und Osteuropa zu ihrer Kulturhauptstadt erküren möge, um einen Prozess in Gang zu bringen, der im Sinne einer sozialen Architektur bedeutende Folgen für Hunderttausende zeitigen könnte. Reaktion: Null. Egal, worum es geht, für die Roma sind die Leute einfach nicht zu interessieren, es sei denn, es wird ein Bettelverbot erwogen.
Der österreichische Autor Michael Köhlmeier hat im Mai in einer tapferen Rede zum Wiener „Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus“ vor versammelter Regierungsmannschaft daran erinnert, dass der Faschismus sich einst des Staates und der Gesellschaft nicht auf einen Schlag bemächtigt hat, sondern viele kleine Schritte in die große Verfolgung führten. Wie soll man es nennen, wenn in einem europäischen Staat für eine einzige Volksgruppe Sondergesetze eingeführt werden? Ab wann ist es kein hysterischer Alarmismus zu sagen, dass die größte Gefahr für die Festung Europa von unseren Festungskommandanten droht, die Europa von innen zerstören?
Quelle: Süddeutsche