Eine Krippe, ein chinesischer Tempel, drumherum ein Gewühl von Statuen und Engeln, Gartenzwerge und ein Gips-Schwan – der Eingang zum Georgswerder Ring (Wilhelmsburg) gleicht einem liebevoll arrangierten Mini-Themenpark. Das Reihenhaus dahinter nannte Emil Weiss sein „Schloss“. Am 24. März starb das Oberhaupt der größten und ältesten Hamburger Sinti-Familie. Er wurde 90 Jahre alt.
„Chef-Zigeuner“ nannte Emil Weiss sich selbst, als die MOPO ihn vor einigen Jahren besuchte. Mit Schlips und Lackschuhen führte er die MOPO-Reporter damals durch seine Schätze, zusammengesammelt auf Flohmärkten, auch die neun Kronleuchter, die unter der Veranda hängen.
Die Eleganz war nicht etwa den Gästen geschuldet, sondern Alltag für den Clan-Chef: „Mein Großvater trug sogar im Garten Krawatte“, erinnert sich der älteste Enkel Martin Weiss (48).
Bei dem Ausdruck „Zigeuner“ seines Großvaters lächelt der Handwerker, betont aber, dass die Familie von Außenstehenden bitte als Sinti bezeichnet werden möge.
Das betagte Familienoberhaupt starb einen freundlichen Tod: „Die letzten drei Wochen seines Lebens waren rund um die Uhr immer drei, vier Familienmitglieder an seinem Bett.“ Er wollte einfach nicht mehr, sagt einer der Enkel. Beerdigt wurde der Clan-Chef in Harburg, nach Sitte der Sinti: „Es waren bestimmt 500 Gäste da, und es gab viel Musik“, sagt Martin Weiss.
Als sein Großvater 1928 zur Welt kam, lebte die Familie schon fast 200 Jahre in Hamburg. Als Junge entkam Emil Weiss durch Zufall der Deportation ins KZ: Der Zug war überfüllt. Der 13-Jährige wurde Zwangsarbeiter bei der „New York Hamburger Gummi-Waaren Fabrik“ in Harburg: „Er musste zu Fuß hinlaufen, durfte als Sinti nicht mit den anderen Arbeitern in der Kantine essen“, sagt sein Enkel, „er wusste was Hunger ist. Trotzdem hat er sich eine große Freundlichkeit gegenüber allen Menschen erhalten.“ Tatsächlich galt Emil Weiss als „Gesicht der Familie“, hielt Kontakt zur Politik, sprach mit Bürgermeistern.
500 Mitglieder der Großfamilie leben in der 44 Reihenhäusern am Georgswerder Ring. Die Stadt baute den Weiss‘ die Siedlung 1982 als Entschädigung. Es war das Jahr, in dem Kanzler Helmut Schmidt den NS-Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt hat. In den ersten Jahren stellten Emil und seine Frau Alma einen Wohnwagen ans Haus, Schlafen innerhalb fester Mauern, das ging nicht.
Mehr als 80 Bewohner der Siedlung sind Kinder, Enkel und Urenkel des Patriarchen. Die Männer betreiben Schrotthandel, bieten Waren auf Flohmärkten an, andere sind Handwerker. Die Frauen kümmern sich um Kinder und Alte. Man spricht Deutsch und Sinti.
Im Herzen der Siedlung: die „Hütte der Geborgenheit“, das religiöse Zentrum der Großfamilie. Im Schaukasten sind tägliche Gebetsstunden angekündigt. 1962, nachdem die große Sturmflut ihre Wagen verschont hatte (und Emil Weiss mit einem Boot mehrere Menschen rettete, was in die Familiengeschichte einging), konvertierten die Weiss‘ vom Katholizismus, der traditionellen Religion der Sinti, zum evangelischen Glauben.
Als Oberhaupt der Großfamilie rückt Emil Weiss‘ jüngerer Bruder Oskar (74) nach. Der Vorgarten des verstorbenen Patriarchen bleibt unangetastet. Enkel Martin: „Das ist sein Museum.“