Beschimpfungen, Anfeindungen und Gewalt – für viele Sinti und Roma in Deutschland ist das Alltag. Die Folge: Viele Angehörige der Minderheiten verschweigen ihre Wurzeln. Aber woher kommen die Vorurteile und was dagegen tun?
Ihre Familien leben seit hunderten von Jahren in Deutschland, tragen deutsche Namen und unterscheiden sich auch sonst nicht vom Durchschnitt – trotzdem verleugnen viele junge Sinti und Roma, dass sie der Minderheit angehören. Zu oft werden sie wegen ihrer Wurzeln vom Türsteher nicht in den Clubs gelassen oder haben Probleme, eine Wohnung zu finden. Der Grund: Ihr schlechter Ruf. Laut einer Studie der Uni Leipzig von 2016 hätten knapp 60 Prozent der Befragten ein Problem damit, Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft zu haben. Wir wollten von Frank Reuter von der Forschungsstelle Antiziganismus der Uni Heidelberg wissen, woher die Vorurteile kommen und was sich dagegen tun lässt.
Viele Sinti und Roma „outen“ sich aus Angst vor Diskriminierung nicht. Wie zeigt sich Antiziganismus in Deutschland?
Zum Beispiel durch eine sehr stigmatisierende, einseitige mediale Darstellung. Sinti und Roma werden in den Medien nur dann zum Thema, wenn sie ein sogenanntes „Problem“ darstellen. Junge Sinti und Roma, die beispielsweise Abitur machen oder an der Uni sind, verbergen oft ihre Wurzeln vor ihrem Umfeld, weil sie im Alltag erleben, dass das Nachteile mit sich bringt, beispielsweise bei der Arbeits- oder Wohnungssuche. Oder, dass Fußballfans im Stadion gegnerische Mannschaften als Zigeuner verunglimpfen. Sie können bei Ebay einen Fan-Schal kaufen, auf dem „Zick zack Zigeunerpack, scheiß BVB“ steht.
Oder ein ganz banales Beispiel: Sie sind auf einem Fest eingeladen und die Leute fragen, was man beruflich macht. Wenn ein Betroffener sagt „Ich gehöre zur Minderheit der Sinti und Roma und engagiere mich in dem Bereich“, ist er den Rest des Abends vor allem damit beschäftigt zu erklären, dass er oder sie weder ein Exot noch ein Alien ist, sondern ganz normal in Deutschland lebt. Das verstärkt natürlich die Tendenz bei Betroffenen, in die Unsichtbarkeit abzutauchen. Denn wenn sie in die Sichtbarkeit treten, können sie kaum verhindern, dass das allgegenwärtige Stigma auf sie fällt, wie ein Schatten.
Sinti leben seit über 600 Jahren in Deutschland, Roma seit rund 150 Jahren – beide Volksgruppen sind also seit Generationen Teil der deutschen Gesellschaft. Warum gibt es dann immer noch so viele Vorurteile?
Weil Vorurteile ein Eigenleben haben. Es gibt ja auch immer noch antisemitische Vorurteile, nur werden sie nicht mehr so offen geäußert. Das heißt aber nicht, dass es keine gäbe. Viele „schlafen“ nur und können jederzeit wieder aktiviert werden.
Antiziganismus basiert auf dem offenen Gegensatz zwischen „die Fremden“ und „wir“. Ein Beispiel dafür ist dieses unsägliche NPD-Wahlplakat, auf dem steht „Geld für die Oma, statt für Sinti und Roma“. Auf dem Plakat ist eine alte Frau zu sehen, die deutsche Oma, die kein Geld bekommt, weil es ihr von den Sozialschmarotzern Sinti und Roma weggenommen wird. Es spielt keine Rolle, dass viele Sinti und Roma schon seit Generationen hier leben und dass ihnen von diesem Land Schreckliches angetan wurde. Sie werden auf diesem Plakat automatisch in die Rolle des Fremden, des Parasiten, gedrängt und mit dieser Bildsprache wird dieser Minderheit in den Medien immer wieder der schwarze Peter zugespielt. Als seien sie für alle sozialen Probleme und sonstigen Probleme in diesem Land verantwortlich. Minderheiten dienten im Grunde schon immer dazu, gesellschaftliche Spannungen aufzufangen.
Also verhält es sich beim Antiziganismus ähnlich wie mit dem Antisemitismus?
Antiziganismus hat eine ähnliche historische Verwurzelung in der Bevölkerung wie Antisemitismus, aber im Gegensatz dazu fehlt die jahrzehntelange Aufklärung über das Problem. Stattdessen gibt es Vorurteile gegenüber Sinti und Roma, die seit Jahrhunderten in Populärmedien, in Wissenschaft, Film, Fernsehen, Fotografien und Computerspielen immer weiter tradiert werden, ohne dass es ein Gegengewicht gäbe. Der Kern des Vorurteils gegenüber Sinti und Roma ist eine zugeschriebene völlig andere Lebensweise, als seien das Menschen, die auf einem anderen Planeten leben – quasi Aliens. Sinti und Roma wurden immer als Gegenbild der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit benutzt. In dem Moment, in dem man auf Menschen dieser Gruppe herabguckt und sie erniedrigt, erhöht man sich selbst. Dieser Mechanismus ist sehr, sehr wirksam.
Was kann man tun gegen Antiziganismus?
Wir erleben eine Enthemmung in ganz vielen politischen Bereichen, aber eine Hetze, wie sie heute im Internet gegen Sinti und Roma stattfindet, ist neu. Die zelebriert fast schon den Untermenschen. Ich habe auch kein Patentrezept dagegen, aber ich glaube, dass eine Expertenkommissionen zum Thema Antiziganismus, wie sie im Koalitionsvertrag steht, Wege aufweisen kann, wie man zivilgesellschaftliche Kräfte bündeln kann. Denn letztlich kommt es immer auf den Einzelnen auf der Straße an. Ob er den Mut hat, unsere offene Gesellschaft zu verteidigen, oder ob er wegguckt, wenn Menschen mies behandelt werden.
Zuletzt wurde aus Political Correctness auf vielen deutschen Speisekarten das Zigeunerschnitzel in Balkanschnitzel umbenannt. Ist das aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Da bin ich zwiegespalten. Im Duden aus den 80er-Jahren steht zum Beispiel „Abschaum“ als Synonym für Zigeuner. Zum Respekt gegenüber Sinti und Roma gehört auch, dass man sie bei ihrer Eigenbezeichnung nennt, also wie sie sich selbst nennen wollen. Aber das muss man erklären, mit Argumenten überzeugen und nicht nur wie die Sprachpolizei daherkommen. Am allerwenigsten ist gewonnen, wenn man Begriffe einfach austauscht. Es hat keinen Sinn „Sinti und Roma“ zu sagen, wenn man mit Sinti und Roma genau die gleichen negativen Bilder assoziiert wie mit Zigeuner.
Quelle: BR