29.08.2021
Was für ein Wort. „Quellentelekommunikationsüberwachung“. Was das ist? Weiß nur die FDP, in deren Wahlprogramm sich das Sprachungetüm wiederfindet. Aber auch bei der Wortwahl der anderen Parteien gebe es vor allem Masse und kaum Klasse, kritisiert eine Stuttgarter Studie.
Stuttgart – Mit Wahlprogrammen wollen Parteien ihre Mitglieder binden und neue Wähler überzeugen. Der Wille mag da sein, aber wer sich mit den Wahlprogrammen der Parteien zur Bundestagswahl auseinandersetzen will, scheitert oft schon an der sprachlichen Hürde. Auch in diesem Jahr sind die Texte aus den Parteizentralen einer Stuttgarter Studie zufolge zwar so umfangreich wie nie zuvor – sie lassen sich aber auch so schwer verstehen wie kaum andere in der bundesdeutschen Geschichte. In den Programmen zur anstehenden Wahl fanden sich den Studienautoren zufolge Wortungetüme und Bandwurmsätze mit bis zu 79 Wörtern, wie die Stuttgarter Universität Hohenheim mitteilte.
„Oft lässt die Verständlichkeit der Wahlprogramme zu wünschen übrig“, fasst der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider die Ergebnisse der Studie zusammen. „Nur 1994 waren die Programme im Schnitt noch unverständlicher.“ Für die Analyse benutzte sein Team eine Software für komplizierte Wörter oder verschachtelte Sätze. Die Analyse ist Teil eines Langzeitprojektes, bei dem seit der Bundestagswahl 1949 alle 83 Wahlprogramme der im Deutschen Bundestag oder in drei Landtagen vertretenen Parteien untersucht werden.
Ein weiteres Ergebnis: „Wahlprogramme werden immer länger“, erklärt Brettschneider. Formulierten die Parteien bei der ersten Bundestagswahl 1949 ihre Vorhaben noch im Schnitt mit 5498 Wörtern, so sind es nun 43 541 Wörter pro Programm – acht Mal so viele. Die eigentlich traditionellen Spitzenreiter, die Grünen, werden beim längsten Wahlprogramm in diesem Jahr abgelöst von der Links-Partei. Die kürzesten Programme haben die AfD und die SPD vorgelegt.
Dafür weist das Programm der AfD den längsten Bandwurmsatz auf. Wortungetüme wie „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (FDP, Linke) und Fachbegriffe wie „Cell-Broadcasting-Technologie“ (CDU/CSU), „Cybergrooming“ (Grüne) oder „Life-Chain“ (SPD) finden sich aber breit gestreut über die Parteigrenzen hinweg. Am formal verständlichsten ist laut „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ das Wahlprogramm der Partei Die Linke, den letzten Platz belegen die Grünen. „Es handelt sich um das formal unverständlichste Wahlprogramm der Partei seit 1983“, kritisiert Brettschneider.
Die Ergebnisse seien noch schlechter als bei der jüngsten Bundestagswahl im Jahr 2017. „Das ist enttäuschend“, sagt Brettschneider. „Denn alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben.“ Mit ihren „teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen“ schlössen sie aber einen erheblichen Teil der Wählerinnen und Wähler aus.
Woran kann es liegen? Sind sich Parteien des Kauderwelsches nicht bewusst? Gelungene Passagen in den Einleitungen und verständliche Schlussteile der Programme zeigten, dass Parteien durchaus verständlicher formulieren könnten, sagt der Stuttgarter Sprachwissenschaftler. „Die Themenkapitel sind aber das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den „Fluch des Wissens““, sagt er.
Claudia Thoms, Hohenheimer Verständlichkeits-Forscherin, bemängelt unter anderem Fremd- und Fachwörter sowie zusammengesetzte Wörter und Anglizismen. Da sei bei den Grünen von einer „Fact-Finding-Mission“ die Rede, wenn sie sich vor Ort ein Bild machen wollten. Die CDU/CSU wirbt für einen „Agri-FoodTech-Wagniskapitalfonds“, die AfD formuliert die „supranationale Remigrationsagenda“ und die Partei Die Linke kennt einen „Antiziganismus“. Unverständlich seien auch das „Edge-Computing“ (SPD) und der „Carbon Leakage-Schutz“ (FDP). „Darüber hinaus erhöhen lange, zusammengesetzte Wörter nicht gerade die Lesbarkeit der Wahlprogramme“, mahnt Thoms. Oder stolpern Sie etwa nicht über den „Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr“ (CDU/CSU) oder das „Schuldenstrukturierungsverfahren“ (Grüne)?
Wichtiger als die Sprache sei natürlich stets der Inhalt, meint Brettschneider. „Unfug wird nicht dadurch richtig, dass er formal verständlich formuliert ist.“ Formale Unverständlichkeit stelle aber eine Hürde da, wenn Inhalte verstanden werden sollten. „Parteien verschenken hier eine Kommunikationschance.“ dpa