Die Niederlande verlangen die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Deutschland ist für Sanktionen gegen den Sezessionisten Milorad DodikAnalyseAdelheid Wölfl

17. Dezember 2021, 10:09

Nordmazedonien kann weiterhin nicht mit den EU-Beitrittsverhandlungen beginnen, weil diese von Bulgarien blockiert werden. Der Kosovo bekommt noch immer keine Visa-Liberalisierung. Und Serbien kann das „Cluster Vier“ der EU-Erweiterungsverhandlungen eröffnen – dabei geht es vor allem um die Grüne Agenda. Das war das Ergebnis des EU-Rats für Allgemeine Angelegenheiten vergangene Woche.

Von Experten gab es Kritik daran, dass Serbien Fortschritte attestiert wurden, obwohl es tatsächlich keine weitreichenden Reformen gab und seit Jahren ein demokratiepolitischer Verfall zu verzeichnen ist. Mit der Entscheidung, trotzdem Verhandlungskapitel zu eröffnen, hat sich die EU nun endgültig davon verabschiedet, dass die EU-Aspiranten auf dem Balkan nach ihren Verdiensten beurteilt werden. Doch die EU-Staaten wollen Serbien unbedingt an die EU binden, weil sie aus geopolitischen Gründen über den Einfluss Chinas und Russlands besorgt sind, erzählen Diplomaten. Deswegen denken diese Diplomaten, man müsse Serbien entgegenkommen und „etwas geben“. Serbien hat sich jedoch tatsächlich in den vergangenen Jahren wirtschaftlich, aber auch sicherheitspolitisch sehr eng an China angebunden, aus Russland kommt vor allem politische Unterstützung.

Geschichtsnarrative

Der neue bulgarische Premier Kiril Petkow kündigte unterdessen an, mithilfe von Arbeitsgruppen an einer Einigung mit Nordmazedonien arbeiten zu wollen, um das Veto gegen den Beginn der Beitrittsverhandlungen aufzuheben. Allerdings müsse Nordmazedonien zunächst seine Geschichtslehrbücher ändern und den Ausdruck „faschistische Besatzungsmacht“ streichen, wenn es um die Besetzung des heutigen Nordmazedonien durch Bulgarien im Zweiten Weltkrieg gehe. Bulgarien behauptet nämlich, dass der Begriff „faschistische Besatzungsmacht“ Hass schüre.

Demnach versucht Bulgarien also Nordmazedonien vorzuschreiben, wie es die Besatzung zu beschreiben hat. Während der Besatzungszeit lieferte Bulgarien im März 1943 mehr als 7.000 mazedonische Juden aus, die im KZ Treblinka ermordet wurden. Die Auslieferung dieser Menschen erfolgte durch bulgarische Behörden und in Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland. Der Begriff „faschistische Besatzungsmacht“ erscheint angesichts dieser Politik treffend. In Bulgarien sind sich viele Bürger aber gar nicht bewusst, wie sehr starke historisch-nationalistische Narrative Teil ihres Denkens sind.

Keine Sanktionen gegen Dodik

Der Rat für Allgemeine Angelegenheiten beschäftigte sich diese Woche auch mit Bosnien-Herzegowina, das in der größten Krise seit dem Ende des Krieges steckt, weil völkische Nationalisten rund um den rechtsradikalen Politiker Milorad Dodik konkrete Schritte zur Abspaltung des Landesteils Republika Srpska unternehmen. Die EU hat sich aber immer noch nicht auf Sanktionen gegen Dodik und sein Umfeld geeinigt, obwohl vor allem Deutschland – allen voran die neue Außenministerin Annalena Baerbock – dafür eintritt. Auch Großbritannien bereitet Sanktionen gegen Dodik vor.

„Der Rat fordert alle politischen Führer nachdrücklich auf, provokative und spaltende Rhetorik und Maßnahmen zu unterlassen und aufzugeben, einschließlich der Infragestellung der Souveränität, Einheit und territorialen Integrität des Landes“, heißt es in den Schlussfolgerungen des Rates, allerdings ohne Dodik namentlich zu erwähnen. Konkret wird nur festgehalten: „Rhetorik und Initiativen, die darauf abzielen, Reformen rückgängig zu machen und sich aus staatlichen Institutionen zurückzuziehen, sind inakzeptabel.“

Beschwichtigungspolitik

In der EU hat sich offenbar noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass keineswegs „alle politischen Führer“ die Verantwortung für die Destabilisierung des Staates tragen, sondern nur jene völkischen Nationalisten, die seit Jahrzehnten diesen Staat zerstören wollen. Die vagen Formulierungen und diese Beschwichtigungspolitik der EU führen in Bosnien-Herzegowina unter den Bürgern dazu, dass das Vertrauen in die EU geringer wird. Viele Bürger fürchten sich seit Monaten vor einer weiteren Destabilisierung, sehr viele haben sogar Angst davor, dass ein neuer bewaffneter Konflikt entstehen könnte. Das hat vor allem damit zu tun, dass hunderttausende Menschen während des dreieinhalbjährigen Krieges (1992–1995) schwer traumatisiert wurden.

Ein Thema im Vorfeld des Rates war auch der Versuch der nationalistisch-kroatischen Partei HDZ in Bosnien-Herzegowina, mithilfe der in Kroatien aktiven Schwesterpartei HDZ das Wahlrecht in Bosnien-Herzegowina nach ihren nationalistisch-parteiischen Vorstellungen ändern zu lassen. Die HDZ versucht seit vielen Jahren – unter anderem sehr erfolgreich in den EU-Institutionen, etwa im EU-Parlament durch die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und der Delegation für die Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina, Željana Zovko – dafür zu lobbyieren, dass künftig nur mehr ein HDZ-Kandidat die Position des kroatischen Vertreters im dreiköpfigen Staatspräsidium einnehmen kann. Die HDZ ist insgesamt gut vernetzt. Trotz mehrmaliger Nachfrage des STANDARD hat die Presseabteilung des Europarats bisher nicht darauf geantwortet, ob die Generalsekretärin Marija Pejčinović Burić nach wie vor Mitglied der HDZ ist. Die Venedig-Kommission des Europarats ist in der Causa der Verfassungsreform in Bosnien-Herzegowina aktiv.

Vertreter aller Bürger

Die HDZ stößt sich daran, dass derzeit der Nichtnationalist Željko Komšić als Kroate im bosnischen Staatspräsidium sitzt. Das Argument der HDZ ist, dass „die Kroaten“ überstimmt würden, weil nicht nur Bosnier, die sich als Kroaten verstehen, sondern auch andere, die sich gar nicht ethnisch definieren, oder nichtnationalistische Bosniaken Komšić gewählt haben. Nun geht es aber bei der Wahl der drei Mitglieder der Präsidentschaft (ein Serbe, ein Bosniake, ein Kroate) nicht darum, wer sie wählt. Denn sie werden von allen bosnischen Bürgern gewählt und nicht nur von Mitgliedern der drei konstitutiven Völker (Bosniaken, Serben, Kroaten). Gerade deshalb sollten die drei auch alle Bürger vertreten. Die Wahl von Komšić stellt also verfassungsrechtlich kein Problem dar.

Die derzeitige Verfassung ist allerdings an einer anderen Stelle diskriminierend, nämlich wenn es um das passive Wahlrecht geht. So dürfen Menschen, die sich als Bosnier verstehen (also ethnische Definitionen ablehnen oder Angehörige von Minderheiten, etwa Roma, sind), gar nicht ins Staatspräsidium gewählt werden. Damit ist Bosnien-Herzegowina der einzige Staat in Europa, in dem ein Jude oder eine Jüdin nicht im Staatspräsidium oder in der zweiten Parlamentskammer sitzen darf. Genau wegen dieser schweren Diskriminierungen fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seit vielen Jahren die Änderung der Verfassung von Bosnien-Herzegowina, etwa die Umsetzung der berühmten Entscheidung zu Sejdić-Finci (einem Rom und einem Juden), die bereits 2009 erfolgte.

Keine „legitimen Vertreter“

Der EU-Rat hat nun diese Woche – vor allem weil die Niederlande darauf gepocht haben – festgehalten, dass die Urteile des EGMR prioritär umgesetzt werden müssen, wenn es um die Änderung der Verfassung geht. Die Forderungen der HDZ, dass es für die Kroaten im Staatspräsidium einen „legitimen Vertreter“ geben müsse, sprich einen Nationalisten von der HDZ, wurden nicht in die Ratsschlussfolgerungen aufgenommen. „Der Rat betont, dass keine gesetzgeberischen oder politischen Schritte unternommen werden sollten, die die Umsetzung des Urteils Sejdić-Finci und der damit zusammenhängenden Urteile des EGMR erschweren oder die Spaltung weiter vertiefen würden“, heißt es vielmehr in den Ratsschlussfolgerungen.

Die HDZ wollte im Landesteil Föderation Wahlkreise nach ethnischen Kriterien einführen, um sicherzustellen, dass der HDZ-Kandidat die Wahlen gewinnen kann. Diese Idee wurde sogar von Vertretern der EU unterstützt, obwohl dies „die Spaltung weiter vertiefen würde“, wie es die EU eigentlich ablehnt.

HDZ-Modell treibt Teilung voran

Der Verfassungsexperte Sören Keil vom Institut für Föderalismus der Universität Freiburg meint, dass die Diskussion den inhärenten Konflikt der Daytoner Verfassung zwischen ethnischen Kriterien und ethnischer Gleichheit und dem Gleichheitsgrundsatz der Person ohne ethnische Kriterien zeigt. Zur Idee der HDZ sagt er: „Wahlen müssen frei, fair, geheim und gleich sein, um als demokratisch anerkannt zu sein, wobei ‚gleich‘ normalerweise meint, dass jede Stimme gleich zählt. Gerade mit ethnischen Kriterien wäre das nicht so, da in gewissen Wahlkreisen dann bei der Präsidentschaftswahl Stimmen benachteiligt würden.“

Das HDZ-Modell würde die bestehenden Diskriminierungen ausbauen und die ethnische Teilung vorantreiben, erklärt Keil dem STANDARD. „Es würde außerdem gegen das Sejdić-Finci-Urteil verstoßen und weiter von dessen Umsetzung abrücken.“ Keil hält das HDZ-Modell nicht für verfassungskonform, sondern für eine Form von Gerrymandering. Unter diesem Begriff versteht man in den USA die Manipulation von Wahlkreisgrenzen, um die eigenen Erfolgsaussichten zu erhöhen. „Der Vorschlag ist eine radikale Form des Gerrymandering, eine, die auf ethnischer Ausschließung basiert und zur Konsolidierung der Macht ethnisch-exklusiver Parteien dient“, so Keil.

Auf Eis gelegt

Die Parteien in Bosnien-Herzegowina, denen vor allem der Schutz des Staates vor den Attacken der Nationalisten wie Dodik das größte Anliegen ist, allen voran die Sozialdemokraten, haben sich nun aus den Gesprächen über die Wahlrechtsreform mit den EU- und US-Vertretern zurückgezogen. Sie fordern, dass zunächst einmal die Sezessionsbestrebungen von Dodiks Partei, der SNSD, beendet werden müssen. Die Wahlrechtsreform liegt deshalb auf Eis. Der Besuch der EU- und US-Vertreter wurde abgesagt. (Adelheid Wölfl, 17.12.2021)

https://www.derstandard.de/story/2000131976795/eu-rat-fordert-ende-der-diskriminierung-von-juden-und-roma